"Flüchtling friert nicht!"
Die halbe Nacht liege ich wach. Das
passiert mir nur sehr selten. Und die schlaftaumelnden Gedanken
zeichnen Bilder, die schon sehr verblasst sind. Nicht nur in meinen
Erinnerungen - sondern generell. Und obwohl wir eigentlich immer noch
viele sind, scheinen wir plötzlich ziemlich allein dazustehen. Doch
wir haben es warm, sind umgeben von liebenden Menschen und in unserer
gewohnten Umgebung. Wir sind in Sicherheit und können uns in das
sorgsam bereitete Nest setzen, dass sie für uns erschaffen haben.
Das war 1943 ganz anders. Die Mutter
der siebenköpfigen Kinderschar litt seit Wochen unter entsetzlichen
Zahnschmerzen, das Baby schrie, weil es ständig entweder Bauchweh
oder Hunger hatte - oder beides - und die Rückführung der
sogenannten "Volksdeutschen" sorgte für Ungewissheit und
Angst. Und sie war gezwungen, sich von ihrem Mann und dem ältesten
Sohn zu verabschieden.
Wie oft haben wir als Kinder und
Jugendliche vor dem Bild gesessen, kam es mir heute Nacht in den
Sinn, das den 16 jährigen zeigte, in der schlechtsitzenden, viel zu
großen Uniform. Der Junge mit dem ernsten Blick. Und wie oft haben
die Tanten gesagt: "Jetzt bist du so alt wie unser Leo! Aber
dich geben wir nicht her!"
Vier Brüder - der Jüngste keine
drei Monate alt - der Älteste im "wehrfähigem Alter". So
wurde es behauptet, nachdem die Papiere der Familie während der
Kesselschlacht um Minsk verloren gegangen waren, und es sich nicht
belegen ließ, dass der Junge noch nicht einmal 17 Jahre alt war.
In Polen lernte der Zweitjüngste
Polnisch - er sog die Worte auf wie ein Schwamm und brachte die
Familie zur Verzweiflung, weil er nur noch Polnisch sprach und alle
anderen Sprachen verweigerte. Da der kleinste Bruder an ihm hing wie
eine Klette, sprach er seine ersten Worte ebenfalls auf polnisch.
Sie zogen weiter nach Deutschland
und erhielten schlechte Nachrichten. Der Vater war gefallen. Ein
Granatsplitter. Vom Verbleib des ältesten Sohnes war nichts bekannt.
Die älteste Tante erzählte
häufig davon, dass die Mutter über Wochen wie erstarrt war und kein
Wort sprach.
Die
kleinen Rotzlöffel allerdings quasselten umso mehr - aber immer noch
ausschließlich
polnisch. Was die Familie häufig nötigte zu erklären, dass die
Jungen durchaus zu ihnen gehörten und nicht etwa polnische
Kuckuckskinder seien. Zum
Glück gab es mittlerweile neu ausgestellte Dokumente für die ganze
Familie.
Kurz
vor Kriegsende erhielten die Familien der Umgebung die Nachricht,
dass man alle Jungen im
Alter von 16 bis 18 Jahren
einziehen würde. Die Mutter beschloss, dass sie der
Kriegsmaschinerie nicht noch ein Kind in den Rachen werfen würde.
"Versteck Dich!", wies sie den beinahe
16
jährigen zweitältesten Sohn an. Und er tat dies ausgesprochen
gründlich. Über Jahre hörten sie nichts von ihm und gingen vom
allerschlimmsten aus.
Der
Krieg endete, die Familie fand einen sicheren Unterschlupf bei einem
Bauern in der Nähe von Verden und überstand den Hungerwinter
1946/47.
Die
kleinen Jungen sprachen immer noch einen Mischmasch aus Polnisch und
Deutsch - doch man hatte sich damit abgefunden. In der Schule würde
man es ihnen wohl austreiben!
Das
viel größere Problem war die
Kälte. Sie hatten nur die Kleider, die sie am Leib trugen und die
der beiden kleinen Jungen
war mittlerweile viel zu klein geworden. Die Hosen des jüngsten
endeten knapp unter dem Knie, die Socken waren so durchgelaufen, dass
er auch hätte barfuss gehen können und er trug nur löchrige
Halbschuhe an den kleinen Füßen. Doch die Jungen ließen sich nicht
einsperren und waren auch bei der bittersten Kälte solange wie nur
möglich unterwegs um ihren Teil gegen den Hunger tun zu können.
Wenn Erwachsene sie ansprachen, ob sie denn nicht frieren, dann
antworteten die kleinen Blondschöpfe mit
hinreißendem Lächeln:
"Flüchtling
friert nicht!"
Noch
immer war ihre Reise nicht zuende, doch mit jedem Schritt, der einem
neuen Ziel entgegenging, fragten sie sich, wie die beiden ältesten
Brüder sie nur wiederfinden sollten. Beide waren sie wie vom
Erdboden verschluckt.
Im
südlichen Niedersachsen fanden sie ein Heim. "Die Flüchtlinge
aus dem Unterdorf" und machten sich eifrig daran, sich ein Leben
aufzubauen.
1951
- es galt die Hochzeit der ältesten
Tochter auszurichten - kam der Postbote schnell wie der Wind, beinahe
vor Tagesanbruch, die Straße hinunter gesaust. Ein Brief aus
Amerika!
"Liebe Mutter, das
wichtigste zuerst: Ich bin am Leben, mir geht es gut - es hat nur
Jahre gedauert Euch zu finden!"
"Bei unserer Hochzeit flossen
mehr Tränen, als Alkohol!", sagte der angeheiratete Onkel 50
Jahre später, während der Feier zur goldenen Hochzeit, an der auch
der ausgewanderte Zweitälteste mitfeierte.
Es war ein rauschendes Fest. Es
wurde getanzt und gesungen. Und Tränen wurden vergossen. Es dauerte
nämlich tatsächlich 50 Jahre, bis die drei Brüder sich einmal alle
am selben Ort aufhielten.
Nur der älteste Bruder blieb
vermisst. Immer wieder versuchte die Familie ihn zu finden und bis
heute wird gehofft, dass der große Bruder der Kriegshölle hatte
entkommen und ein langes leben hat leben können. Vielleicht lebt er
mit Anfang 90 noch irgendwo, im Kreis einer liebevollen Familie.
Aus dieser Generation lebt nur noch
eine Tante. Sie hat die drei älteren Geschwister gehen lassen müssen
und die drei jüngeren Geschwister ebenso. Doch während ich das
Gefühl habe "vaterseelenallein" zu sein, lässt diese
Tante sich nicht in die Knie zwingen. In ihren Augen funkelt das
Leben, ihre Stimme ist wie immer fest und resolut. Sie trägt Jeans
und glitzernde Gürtel. Sie verteilt das Drehbuch für ihre
Beerdigung selbst - schließlich "wird das ein ganz großer
Abgang werden!" und erinnert uns, die jüngere Generation daran,
dass wir auch diese Gene haben.
"Wir machen unserem Namen alle
Ehre! Bis zum letzten Tag. Euer Vater hatte blaugefrorene Knie und
trotzdem hat er der Kälte mit einem Lachen im Gesicht getrotzt!
Später hat er ein Bein verloren und trotzdem noch getanzt! So seid
Ihr auch!"
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